Montag, 10. März 2014

Mises-Lektüre VI: Die Sozialphilosophie des Kleinen Mannes

In den ersten Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts gab es viele Menschen, die ihre eigene Unkenntnis dieser Probleme [Anm.: gemeint sind damit Probleme der Nationalökonomie] als einen ernsten Mangel ansahen und darum bemüht waren, dem abzuhelfen. In den Jahren zwischen Waterloo und Sebastopol gab es keine Bücher in Großbritannien, die eifriger gelesen wurden als volkswirtschaftliche Abhandlungen. Doch ließ diese Mode bald nach. Das Thema war dem gewöhnlichen Leser nicht mundgerecht. Die Volkswirtschaftslehre unterscheidet sich so sehr von den Naturwissenschaften und der Technologie einerseits und von der Geschichte und der Rechtskunde andererseits, daß sie dem Anfänger fremd und reizlos erscheint. Die Besonderheit ihrer Forschungs-methode wird von denen, deren wissenschaftliche Arbeit sich in Laboratorien oder in Archiven und Bibliotheken vollzieht, mit Mißtrauen betrachtet. Die Besonderheit ihrer Methode erscheint den beschränkten Fanatikern des Positivismus unsinnig. Die Leser möchten in einem volkswirtschaftlichen Lehrbuch genau die Lehre finden, die in ihre vorgefaßte Auffassung dessen, was Volkswirtschaftslehre sein sollte, hineinpaßt – nämlich eine Disziplin, die der logischen Struktur der Physik und der Biologie entspricht. Die Leser sind verwirrt und geben es auf, sich ernsthaft mit Problemen zu befassen, deren Analyse eine ungewohnte geistige Anstrengung erfordert.
Das Resultat dieser Unwissenheit ist, daß man alle Verbesserungen der wirtschaftlichen Bedingungen dem Fortschritt der Naturwissenschaften und der Technologie zuschreibt. Es wird angenommen, daß im Laufe der Menschheitsgeschichte eine automatische Tendenz zum progressiven Fortschritt der experimentellen Naturwissenschaften und deren Anwendung auf die Lösung technologischer Probleme herrscht. Diese Tendenz sei unwiderstehlich, sie liege im Wesen des menschlichen Schicksals und übe ihre Wirkung ungeachtet der politischen und wirtschaftlichen Organisation der Gesellschaft aus. Der Mensch ist der Meinung, daß der beispiellose technologische Fortschritt der letzten zweihundert Jahre durch die Wirtschaftspolitik dieser Zeit weder bedingt war noch gefördert wurde. Er sei nicht die Errungenschaft des klassischen Liberalismus, des freien Handels, des Laissez-faire oder des Kapitalismus. Er werde deshalb unter jedem System der wirtschaftlichen Organisation der Gesellschaft vor sich gehen.
Die Lehre von Marx fand deshalb Beifall, weil sie diese populäre Interpretation der Geschehnisse einfach adoptierte und in einen pseudo-philosophischen Schleier hüllte, wodurch sie sowohl den Hegelianischen Spiritualismus wie auch den groben Materialismus befriedigte. In dem Schema von Marx sind „die materiellen produktiven Kräfte“ ein übermenschliches Wesen, das weder vom Willen noch vom Tun des Menschen abhängt. Sie gehen ihren eigenen Weg, der ihnen durch unerforschliche und unabänderliche Gesetze einer höheren Macht vorgeschrieben ist. Sie verändern sich auf geheim-nisvolle Weise und zwingen die Menschheit, ihre sozialen Organisationen diesen Veränderungen anzupassen; denn die materiellen produktiven Kräfte suchen nur eines zu vermeiden: die Fesselung durch die soziale Organisation der Menschheit. Den wesentlichen Inhalt der Geschichte bildet der Kampf der materiellen produktiven Kräfte um die Befreiung von den sozialen Ketten, durch die sie gefesselt sind.
Es gab einmal eine Zeit, lehrt Marx, in der die materiellen produktiven Kräfte in der Form des Handwerks verkörpert waren, und zu dieser Zeit ordneten sie die menschlichen Angelegenheiten nach dem feudalen Muster. Als in späteren Zeiten die unergründlichen Gesetze, die die Entwicklung der materiellen produktiven Kräfte bestimmen, das Handwerk durch die Maschine ersetzten, mußte der Feudalismus dem Kapitalismus weichen. Seitdem, so lehrt Marx weiter, haben sich die materiellen produktiven Kräfte weiterentwickelt, und ihre gegenwärtige Form verlangt notwendigerweise die Ersetzung des Kapitalismus durch den Sozialismus. Diejenigen, die versuchen, die sozialistische Revolution aufzuhalten, geben sich nach Marx einer hoffnungslosen Aufgabe hin. Es sei unmöglich, gegen den Strom des geschichtlichen Fortschritts anzukämpfen.
Die Ideen der sogenannten Linksparteien unterscheiden sich voneinander in vielfacher Hinsicht. In einem Punkt stimmen sie aber überein. Sie alle betrachten die progressive materielle Verbesserung als einen selbständigen Vorgang. Amerikanische Gewerkschaftsmitglieder nehmen ihren Lebensstandard als etwas Selbstverständliches hin. Das Schicksal hat es bestimmt, daß der Arbeiter die Annehmlich-keiten genießen soll, die selbst den wohlhabendsten Leuten früherer Generationen versagt waren und die Nichtamerikanern noch immer versagt sind. Es fällt ihnen nicht ein, daß der „grobe Individua-lismus“ der großen Geschäftsunternehmen vielleicht eine gewisse Rolle in der Entstehung der so- genannten „amerikanischen Lebensweise“ gespielt hat. In ihren Augen repräsentiert das „Manage- ment“ die ungerechten Ansprüche der „Ausbeuter“, die beabsichtigen, sie ihres Geburtsrechts zu berauben.
(Ludwig von Mises: Die Wurzeln des Antikapitalismus, Frankfurt 158, 43-46)

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